Ohne gegenseitige Sympathie geht es nicht
Rund um die Uhr-Betreuung von verhaltensauffälligen Menschen.
24 Stunden unter Aufsicht, beim Spaziergang oder dem Weg zur Arbeit die Hände fixiert – was auf den ersten Blick für Außenstehende wie eine Bestrafung, eine Sanktion wirkt, dient in der Realität Philipps eigenem Schutz. Mehr noch, er möchte das. Philipp möchte seine Hände nicht frei bewegen können. Aus Angst, sich selbst etwas anzutun und aus Angst, andere Menschen anzugreifen. „Er schützt sich damit selbst“, sagt Alexander Perels.
Perels arbeitet seit über 20 Jahren in der Wohnstätte der Werraland Lebenswelten. Er ist Teamleiter von Haus 3 in der Kasseler Straße. Dem Haus, in dem die Klienten mit starken Verhaltensauffälligkeiten leben. Philipp ist einer von ihnen. Für die Unterbringung in der Wohnstätte und die erwähnte Fixierung gibt es richterliche Beschlüsse. Philipp hat seinen eigenen „Time out-Raum“ mit gepolsterten Wänden. Ebenfalls eine Vorschrift des Gerichts. Zu seinem eigenen Schutz. Hier relaxt er, hier nimmt er sich seine Auszeiten.
1:1-Betreuung ist Teamarbeit
Insgesamt acht Kollegen arbeiten in der 1:1-Betreuung, die Nachtwachen nicht mit eingerechnet. „Es ist ein ständiges Begleiten und Beobachten, entweder persönlich oder über Tablet und Computer. 24 Stunden, sieben Tage die Woche“, sagt Alexander Perels. Für einen Mitarbeiter alleine undenkbar, 1:1-Betreuung ist Teamarbeit.
„Unsere Arbeit ist fordernd. Wenn du Nervosität oder Angst zeigst, wird es schwierig. Unsere Klienten erkennen das sofort“, so Regina Degenhardt, eine der Dienstältesten im Team.
Gegenseitige Wertschätzung sei das A und O in ihrem Job. „Ohne Sympathie füreinander geht es nicht“, sagt Regina Degenhardt. Sie betreut seit Jahren Özgür. Die Verständigung mit ihm läuft nonverbal, Özgür spricht nicht. Kommunikationsringe helfen, Özgür zeigt mit Hilfe dieser Ringe, was er möchte oder auch, wenn ihm etwas weh tut, wenn er Schmerzen hat.
Philipp dagegen spricht. Er sagt, was er möchte oder was ihn bedrückt. „Philipp ist sehr selbstständig. Das muss er auch sein, denn Nähe verträgt er nicht, die kann er nicht zulassen“, sagt Alexander Perels. Wenn man Philipp zu nahekommt, wird es gefährlich. Gefährlich im Sinn von „das tut ihm nicht gut, dafür hat er keine Lösungen“.
Philipp sei ein liebenswerter Mensch mit besonderem Charme. Es gelte aber, gewisse Regeln zu beachten. Stark verhaltensauffällige Menschen stünden unter einem enormen Eigendruck, den müsse man unter Kontrolle halten.
Das Wichtigste dabei ist eine feste Tagesstruktur. Die Tage sind vom Aufstehen bis zum Schlafengehen komplett durchorganisiert. Philipp beispielsweise weiß am Abend ganz genau, was am nächsten Tag ansteht. Wartezeiten gibt es im idealen Fall nicht. Leerlauf ist Gift.
Menschen mit ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten können mit Pausen, mit Abweichungen von ihrer starren Tagesstruktur nicht umgehen. Dann übersteigt ihr innerer Druck eine Grenze, dann halten sie es nicht mehr aus, dann halten sie sich selbst nicht mehr aus.
„Wir als Team können dank unserer Fachkompetenz und Erfahrung mit solchen Situationen umgehen, trotzdem gilt es, diese Situationen zu vermeiden – zum Wohl der uns anvertrauten Menschen und auch zu unserem eigenen Wohl“, sagt Perels. Ein Verbleib und eine fachgerechte Betreuung innerhalb der Familie des betroffenen Menschen ist kaum, in den überwiegenden Fällen, gar nicht möglich. Dies vor allem auch im Hinblick auf soziale Teilhabe. „Wegschließen ist keine Option, jeder Mensch hat das Recht auf soziale Teilhabe – und genau die ermöglichen wir unseren Klienten mit unserer Arbeit“, sagt Perels.
Dass die Arbeit herausfordernd ist, daraus macht er keinen Hehl. Mit den Blicken anderer Menschen, wenn er oder ein Kollege aus dem Team mit Philipp unterwegs ist, kann er gut leben: „Sie kennen ihn nicht, die Meisten kennen keine Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten aus ihrem Umfeld, daher darf man ihnen ihre Blicke nicht übelnehmen.“ Philipp habe sich seine Verhaltensauffälligkeit nicht ausgesucht. Er hat sie, er lebt damit und wir als Team sind sehr gerne an seiner Seite“, sagt Alexander Perels. 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.